Die Vollbremsung im Griff
Moderne E-Bikes bieten immer mehr Funktionen. Für die Sicherheit sind nur wenige davon relevant. Mit der Einführung zweier Antiblockiersysteme für E-Bikes im Sommer 2022 hat sich das geändert: in Extremsituationen können sie den Unterschied machen zwischen «kontrolliert zu einem Stopp kommen» und «sich auf die Nase legen».
Hand aufs Herz: Beherrschst du die Bremse deines E-Bikes in jeder Situation? Tatsächlich ist es so, dass kaum Velofahrende grundlos umfallen. Zu Stürzen kommt es sehr oft durch verunglückte Bremsmanöver - bei Vollbremsungen ist das Sturzrisiko besonders hoch. Das hat weniger mit mangelndem Können zu tun, sondern mit Physik - genauer gesagt: mit der Massenträgheit. Wenn man voll in die Eisen steigt, verzögert das Velo abrupt. Allerdings bilden Mensch und Maschine keine starre Einheit und verzögern dadurch unterschiedlich schnell. Durch die Trägheit kommt es zu einer Gewichtsverlagerung auf das Vorderrad, welches den Löwenanteil der Bremsenergie auf den Boden überträgt. Bei «geplanten» Bremsmanövern lässt sich dem durch eine Verlagerung des Körperschwerpunktes nach hinten entgegenwirken. Wird eine Vollbremsung aber völlig überraschend notwendig – wie so oft – gelingt eine solche Gegenreaktion nur mit reflexhaft eingespielten Bewegungsabläufen. Ohne ein Gegensteuern kann es im Extremfall sogar zu einem Drehmoment am Vorderrad kommen. Oder, einfacher formuliert: zu dem gefürchteten «Abfliegen über den Lenker». Also jenem klassischen Velosturz, bei dem gerne auch mal ein Schlüsselbein in die Brüche geht.
Ein solcher Sturz ist übel genug. Aber hier reden wir von einem «Idealfall». Über den Lenker steigt man nur dann ab, wenn der Boden gut haftet, und die Bremskräfte voll aufnehmen kann. Riskanter sind Situationen, in denen der Grip gering ist. Dafür braucht es nicht viel: Ein kleiner Sommerregen nach längerer Trockenheit kann Asphalt in Schmierseife verwandeln. Gefallenes Laub in Kombination mit Regen ist kaum weniger schlüpfrig als Glatteis. Eine Vollbremsung auf einem solchen Untergrund ist gefährlicher als das zuvor geschilderte Szenario. Schliesslich konnte das Vorderrad bei einem Sturz über den Lenker bereits Bremskräfte übertragen, wodurch sich die Geschwindigkeit reduzierte. Bei einer Vollbremsung auf losem Untergrund blockiert das Vorderrad, verliert komplett den Grip, und rutscht dann nicht selten zur Seite weg. Einen Vorderrad-Slide fangen auch Profis nur mit Glück und Geschick ab. Meist liegt man schneller auf der Nase, als man das Wort «Spital» denken kann.
Sicherheits-Plus Bremsassistent
Dass blockierte Räder zu einem Kontrollverlust führen, ist keine neue Erkenntnis. Schon lange wird kein Auto mehr ohne ein serienmässiges Antiblockiersystem ausgeliefert. Und schon seit 2017 ist in Europa ein ABS auch bei Motorrädern Pflicht. E-Bikes gelten rechtlich als Velos – für sie gilt diese Pflicht nicht. Rein physikalisch gelten bei E-Bikes aber dieselben Gesetzmässigkeiten – ein ABS macht also auch hier Sinn. Vorreiter bei der Einführung von Bremsassistenten beim E-Velo war Bosch. Der deutsche Automobilzulieferer hat jahrzehntelange Erfahrung mit ABS-Systemen und kam schon 2019 als erster mit einem auf Velos angepassten System auf den Markt. Bei dieser ersten Generation war die Technik aber in einem sperrigen und ziemlich schweren Kasten untergebracht, der am Lenker befestigt wurde. Mit dieser Lösung konnten sich weder die Velohersteller noch die Kundschaft anfreunden – der Durchbruch blieb aus. Zur Fachmesse Eurobike präsentierten im letzten Jahr dann zeitgleich die globalen Player Shimano und Bosch ein neues ABS-System für E-Bikes. Shimano arbeitete dafür mit dem italienischen Hersteller Blubrake zusammen. Bosch setzte auf eine Kooperation mit dem im Schwäbischen angesiedelten Bremsenspezialisten Magura.
Beide Systeme, sowohl die Shimano Blubrake als auch das Bosch E-Bike-ABS setzen auf dasselbe Prinzip. Dabei verläuft die Hydraulikleitung zwischen Bremshebel und Bremszange durch ein zusätzliches, an der Gabel angebrachtes Bauteil. Dieses kann - elektronisch gesteuert - auf die Hydraulik Einfluss nehmen. An einer speziellen Bremsscheibe überwachen Sensoren das Verhalten des Vorderrades. Droht dieses bei einem Bremsmanöver zu blockieren, wird die Bremsleistung kurzfristig abgeschwächt – das Vorderrad behält zuverlässig Grip. Zusätzlich verfügen beide Systeme über Beschleunigungssensoren, die ein Abheben des Hinterrades erfassen können. Auch in solchen Fällen wird die Bremsleistung kurzfristig verringert – ein «Absteigen über den Lenker» gehört damit der Vergangenheit an.
In der Modellgeneration 2023 führt Shimanos Blubrake noch ein Schattendasein. In nennenswertem Umfang wurde bisher nur das System von Bosch und Magura von den Veloherstellern verbaut. Im Moment ist das ABS vor allem bei sehr hochwertigen E-City- bzw. Trekkingbikes, etwa von Stromer oder bei E-Mountainbikes zu bekommen – wohlgemerkt nicht als Nachrüstteil, sondern nur in der Originalausstattung der Velos. Bei m-way stehen auch schon einige so ausgerüstete Modelle in den Filialen und können ausgiebig getestet werden. Aktuell ist aber bereits absehbar, dass sich das Angebot von mit ABS-Systemen ausgerüsteten E-Bikes in der Zukunft deutlich vergrössern wird. Darauf deutet zumindest die Ankündigung von Bosch im Februar 2023 hin, in Sachen ABS auch mit dem asiatischen Bremsen-Hersteller Tektro zu kooperieren. Dadurch dürfte der Einstiegspreis solcher Systeme erheblich sinken.
Wer braucht ABS am E-Bike?
Bei Velos, die auf der Strasse bewegt werden, macht ein ABS vor allem in Extremsituationen einen Unterschied. Ob man ein solches System braucht, ist eine Frage der Risikoabwägung. Aber wer würde schon auf einen Airbag verzichten wollen, nur weil man den hoffentlich niemals braucht? Beim Mountainbiking schaut die Sache schon anders aus. Das Bosch-System wird mit angepasster Steuerung auch in einer Trail-Variante angeboten. Beim Mountainbiking ist loser Untergrund eher die Regel. Ausführliche Tests in der Praxis haben gezeigt, dass ein Trail-ABS auch in alltäglichen Fahrsituationen mehr Kontrolle über das Bike erlaubt, und Stürze vermeiden hilft.
Allerdings sei hier auch die Kehrseite der Medaille nicht verschwiegen: Ein nicht blockierendes Rad bedeutet automatisch eine Verlängerung des Bremswegs. Beim Mountainbiking kann das zu brenzligen Situationen führen, weswegen eine daran angepasste Fahrweise Not tut. Und generell tendiert man mit einem ABS dazu, mit weit mehr Kraft am Bremshebel zu ziehen, als man das ohne Bremsassistenten tun würde. Wer das einmal verinnerlicht hat, dürfte mit «normalen» Bremsen nicht mehr glücklich werden, und sogar riskanter leben.